Unsere inspirierende Reise mit dem Projekt "Die Verfassungsschüler"

12.12.2023 — 21 Min. Lesezeit

Demokratie erleben, Chancen gestalten: Das Projekt „Die Verfassungsschüler 2.0“- Bilanz eines Projektes der aufsuchenden Demokratiearbeit 

 

Das Projekt „Die Verfassungsschüler 2.0“ hatte zum Ziel, junge Menschen, die in Quartieren mit Multiproblemlagen wie Einkommensarmut, Integrationsschwäche, Arbeitslosigkeit, Netzwerkarmut und Bildungsbenachteiligung leben, für demokratische Werte zu begeistern und an ein eigenes Engagement heranzuführen. Es wurde von 2021 bis 2023 in Trägerschaft von Teach First Deutschland umgesetzt und vom Bundesministerium des Inneren und für Heimat gefördert. Es baute auf den Erfahrungen des Modellprojekts „Die Verfassungsschüler“ auf (vgl. Strauch 2020) und übertrug diesen Ansatz erfolgreich in einen größeren Kontext. „Die Verfassungsschüler 2.0“ war eines der wenigen Demokratieprojekte bundesweit, in denen insbesondere sozial benachteiligte Jugendliche mittels aufsuchender Demokratiearbeit angesprochen wurden. Was der Ansatz der aufsuchenden Demokratiearbeit genau bedeutet, wie dieser im Projekt ausgestaltet wurde und welche Erfahrungen das Projektteam mit dem Ansatz gemacht hat, soll hier dargestellt werden.

 

1. Hintergrund

Deutschland gehört im internationalen Vergleich zu den Ländern, in denen die Bildungschancen besonders stark von den Bildungsressourcen der Eltern abhängen (Shell Jugendstudie 2019, 173). Auch Demokratie, Politik und Engagement sind von dieser Chancenungleichheit betroffen:

  • Nur etwas mehr als die Hälfte der jungen Menschen mit Hauptschul- oder ohne Schulabschluss beteiligte sich beispielsweise an der Bundestagswahl 2017, im Gegensatz dazu waren es 92% der Abiturient*innen (Hübner/ Eichhorn 2018, 45).
  • Nur 62% der Lernenden der Jahrgangsstufen 9 und 10 der „sonstigen allgemeinbildenden Schulformen“ (Schularten mit mehreren Bildungsgängen, Integrierte Gesamtschulen und Realschulen) hält die Demokratie für eine gute Staatsform. Bei jenen am Gymnasium der Jahrgangsstufen 11 bis 13 sind es 92% (Achour/Wagner 2019, 120). Allerdings räumte die Mehrzahl der Schüler*innen, welche die Demokratie für eine nicht so gute Staatsform hielten, ein, dass „es leider nichts besseres gibt“. Antworten, die auf ein autoritäres Regime abzielten, spielten eine untergeordnete Rolle.
  • Während bei Jugendlichen aus sozial benachteiligten Verhältnissen nur 23% der Jugendlichen angeben, politisch oder zivilgesellschaftlich aktiv zu sein, sind es bei den befragten Jugendlichen aus privilegierteren Verhältnissen mit 47% mehr als doppelt so viele (Shell Jugendstudie 2019, 99).

Eine funktionierende Demokratie braucht Bürger*innen, die die demokratischen Werte teilen, Vertrauen in staatliche Institutionen haben, sich an Wahlen beteiligen und sich in der Gesellschaft engagieren. Als Demokratie im Großen ist sie darauf angewiesen, dass sie auch im Kleinen, in den lebensweltlichen Bezügen und im Miteinander gelebt wird, dass also ihre Bürger*innen über demokratische Handlungskompetenzen verfügen. Dies setzt voraus, dass sich (junge) Menschen aktiv mit demokratischen Werten auseinandersetzen und diese sich zu eigen machen. Denn Demokratie wird nicht vererbt, sie wird gelernt.

Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt jedoch deutliche Tendenzen auf, dass diese Auseinandersetzung nur unzureichend stattfindet: An 44% der allgemeinbildenden Schulen werden nach Angaben der Schülerschaft politische Inhalte mit weniger als einer Wochenstunde vermittelt. An Gymnasien gaben nur 12% der befragten Schüler*innen diese niedrige Zahl an (Achour/Wagner 2019, 56). Hier muss beachtet werden, dass die Aussagen zum Politikunterricht nicht grundsätzlich für die jeweilige Schulform stehen, sondern lediglich Auskunft über den (erlebten) Unterricht der befragten Schüler*innen geben (ebd., 48).

Auch finden laut dieser Studie demokratiebezogene Angebote deutlich häufiger an Gymnasien als an sonstigen allgemeinbildenden Schulen statt. Ob es sich hierbei um ein Angebots- oder Informationsdefizit handelt, konnte allerdings von den Autor*innen nicht klar herausgearbeitet werden (ebd., 81). Wie kann unter diesen Voraussetzungen ein Prozess des Demokratielernens ausgebaut werden, von dem vor allem sozial benachteiligte Jugendliche profitieren können?

2. Aufsuchende Demokratiearbeit durch Demokratiescouts

Das Projekt „Die Verfassungsschüler 2.0“ hat an dieser Problemstellung angesetzt und pädagogische Fachkräfte, in der Regel Lehrkräfte und Jugendsozialarbeitende, zu sogenannten Demokratiescouts qualifiziert. Außerdem wurden sie dabei begleitet, Jugendliche ab 14 Jahren an allgemeinbildenden Schulen oder Jugendeinrichtungen in Quartieren mit Multiproblemlagen anzusprechen und mit ihnen demokratische Kompetenzen einzuüben. Denn auch ausgebildete Fachkräfte sind angesichts der großen Herausforderungen von Populismus, Fake News, Diskriminierungserfahrungen, Misstrauen in den Staat und seine Institutionen bis hin zu Demokratiefeindlichkeit häufig unsicher, wie sie mit jungen Menschen über Demokratie ins Gespräch kommen sollen. Zudem sind demokratiepädagogische Kompetenzen unter den Fachkräften unterschiedlich gut ausgeprägt. Als Demokratiescouts konnten die Fachkräfte Hintergrundwissen und Methoden aufsuchender Demokratiearbeit erlernen, ausprobieren und in der direkten Arbeit mit Jugendlichen anwenden.

Aufsuchende Demokratiearbeit verbindet den Ansatz aufsuchender Jugendarbeit mit Demokratiebildung. Dies bedeutete in der Praxis, dass das Projekt mit Fachkräften aus Schule und Jugendarbeit umgesetzt wurde, die ohnehin tagtäglich mit der Zielgruppe arbeiten und die sich bestenfalls bereits auf eine tragfähige Beziehung zu den Jugendlichen stützen konnten. So wurde sichergestellt, dass eine aktive und gezielte Ansprache möglich war, die sich an den Lebenswirklichkeiten, Problemen und Fragen der Jugendlichen ausrichtete und gleichzeitig insbesondere Jugendliche in den Blick nahm, die sich bisher eher wenig für Demokratie und Engagement interessierten oder vielleicht sogar davon distanzierten. Demokratiescouts setzten also keine Demokratiebildung nach einem festen Lehr- oder Zeitplan um, sondern richteten sich vor allem danach, welche Bezüge sie zu den Jugendlichen herstellen konnten, und blieben gleichzeitig am Grundkonzept des Projekts orientiert. So wurde die Vermittlung bestimmter Themen bei parallel gehender Freiheit in der konkreten Ausgestaltung, beispielsweise der Schwerpunktsetzung, den verwendeten Methoden, den Gesprächspartner*innen oder dem Lernort, sichergestellt. Denn der Ansatz aufsuchender Demokratiearbeit versucht die bestehende soziale, kulturelle sowie physisch-räumliche Distanz zu potenziellen Teilnehmenden durch direkte Ansprache und Einladung zu bestimmten Aktivitäten zu überwinden.

Aufsuchende Demokratiearbeit nimmt damit besonders diejenigen Zielgruppen in den Blick, die von schulischen und außerschulischen Bildungsangeboten bisher schwer erreicht werden. Das Demokratieverständnis, das dem aufsuchenden Ansatz des Projekts zu Grunde lag, basierte auf der von Gerhard Himmelmann ausgeführten Unterscheidung von Demokratie als Herrschaftsform (politische Demokratie), Gesellschaftsform und Lebensform. Demokratie als Herrschaftsform nimmt dabei vor allem den Bereich des Staates, seine Funktionen, Aufgaben und rechtliche Basis in den Fokus (Himmelmann 2004, 7). Demokratie als Gesellschaftsform bezeichnet die Verankerung der politischen Demokratie in den zivilgesellschaftlichen Projekten und Kommunikationsformen und zielt auf die Mitwirkung in Vereinen, Verbänden und Initiativen, der freien Medienlandschaft oder im bürgerschaftlichen Engagement generell (ebd., 8).

Die Basis bildet die Demokratie als Lebensform, die Himmelmann als „Rückgrat, als Urform, als Keim- oder Vorform, als Unterfütterung oder sogar als Voraussetzung dafür [ansieht], dass die Demokratie in ihrer Ganzheit wirklich gelebt werden und dauerhaft stabil bleiben kann“. Gemeint sind damit die „individual und sozialmoralischen Grundlagen der bestehenden politischen Demokratie“, die „face-to-face“- Interaktionen, die von demokratischen Werten getragen sein können (oder eben nicht) (ebd., 9). Diese Ebenen erklären den wertebasierten Zugang des Projektes. Die Vision war, Jugendliche von der Demokratie als Lebensform zu begeistern und demokratische Werte in ihren Kompass und ihr tägliches Handeln zu integrieren. Auf dem Verständnis von Demokratie als Gesellschaftsform basierend wurde dann das Ziel verfolgt, die Jugendlichen an ein eigenes Engagement heranzuführen.

Um den Fachkräften umfängliche Demokratiekompetenzen zu vermitteln, die es ihnen ermöglichen, sich am Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe auszurichten, dabei wertebasiert zu arbeiten und immer wieder neu auf die (teils schwierigen und anspruchsvollen) Themen ihrer Gruppen und der Tagespolitik einzugehen, braucht es – so die Erfahrungen des Projektes – den Zweiklang aus umfänglicher Qualifizierung und einer langfristigen Begleitung: Die Fachkräfte besuchten deshalb eine Qualifizierungsreihe bestehend aus vier Modulen und wurden parallel dazu mindestens ein Jahr lang von sogenannten Regionalkoordinator*innen des Projektteams in ihrer Arbeit mit den Jugendlichen begleitet. Dies ermöglichte, stetig Rückbezüge herzustellen: Fragen, die in der Begleitung auftauchten, konnten in die Qualifizierung einfließen und die Fachkräfte erhielten wiederum Unterstützung dafür, das erworbene Wissen und die Methoden aus der Qualifizierung in die Praxis zu überführen.

3. Demokratiescouts qualifizieren

Die Qualifizierung der Fachkräfte bezog sich in der Theorie auf die Vermittlung von Grundlagen der Demokratiebildung, auf (digitale) Methoden- und Interventionskompetenz sowie auf Kompetenzen bei der individuellen Begleitung von Stärken- und Interessensfindung von Jugendlichen. Sie verband dies mit einem unmittelbaren Praxisbezug für die soziale Arbeit mit Jugendlichen. Dazu wurden vier Bausteine der Demokratiepädagogik (u.a. in Anlehnung an das Modell „Kompetenzen für eine demokratische Kultur“ des Europarats) entwickelt, an denen die Demokratiescouts die Kommunikation und Auseinandersetzung mit den Jugendlichen ausrichten konnten. Die Bausteine wurden so konzipiert, dass einerseits positive Bezüge zu Demokratie und den ihr zugrundeliegenden Werten geschaffen und andererseits die gesellschaftlichen sowie politischen Entwicklungen thematisiert werden konnten, die herausfordernd und gefährdend für die demokratische Verfasstheit unseres Staates und Gemeinwesens sind:

(1) Identität und Pluralismus

Die Jugendlichen beschäftigen sich mit ihrer eigenen Identität im Spannungsfeld zu anderen Identitäten, Lebensentwürfen, Werten und Meinungen, die sie in unserer demokratischen Gesellschaft vorfinden. Ziel ist es, dass sie Unterschiedlichkeit annehmen, Toleranz entwickeln, Gemeinsamkeiten in der Verschiedenheit entdecken und Wege eines respektvollen Umgangs miteinander finden können.

(2) Selbstbestimmung und Gesetz

In diesem Baustein findet eine intensive Auseinandersetzung mit dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes statt. Ziel ist, dass die Jugendlichen sich der Bedeutsamkeit dieser Rechte für ein freies und demokratisches Zusammenleben bewusstwerden. Sie werden zur eigenen Bewertung von Widersprüchen zwischen Normen und Realität angeregt und sollen daraus erste Veränderungswünsche für ihr Umfeld entwickeln.

(3) Gleichwertigkeit und Verantwortung

Dieser Baustein dient der Auseinandersetzung mit Stereotypen und eigenen Vorurteilen. Die Jugendlichen beschäftigen sich mit Ideologien der Ungleichwertigkeit. Ziel ist es, dass sie verschiedene Diskriminierungsformen kennenlernen und Zivilcourage entwickeln und Handlungsoptionen gegen die Abwertung und Ausgrenzung anderer Menschen einüben können.

(4) Interessen und Beteiligung

In diesem Baustein wird die Bedeutung von Beteiligung für Demokratie reflektiert. Die Jugendlichen lernen unterschiedliche Formen der Beteiligung kennen und wissen, wie und wo sie sich selbst engagieren können. Ziel ist, dass für ihre Anliegen argumentieren, Einwände aushalten, Kompromisse finden und Konflikte lösen lernen.

Innerhalb dieser Bausteine wurde bei der Qualifizierung der Demokratiescouts insbesondere Wert auf Methoden- und Interventionskompetenzen gelegt. Welche Methoden sind für die Vermittlung der Inhalte so niedrigschwellig, dass sie auch Jugendlichen, die sich bisher kaum mit Demokratie auseinandergesetzt haben, Spaß machen und Interesse wecken, damit sie auch im freiwilligen Bereich funktionieren und sich nicht „nach Schule“ anfühlen? Diese und andere Fragen wurden im Rahmen von zwei je zweitägigen Präsenzworkshops und zwei eintägigen Onlineworkshops aufgegriffen. Ergänzend konnten die Demokratiescouts auf eine digitale Lernplattform mit einer Vielzahl von vorbereitenden Texten und Aufgaben zugreifen. Dies ermöglichte dem Projektteam zusätzlich, die teils unterschiedlichen Wissensstände unter den pädagogischen Fachkräften auszugleichen.

4. Wirkungsmessung: Qualifizierung der Demokratiescouts

Um die Wirkung der Qualifizierungsangebote einschätzen zu können, wurde allen teilnehmenden Demokratiescouts jeweils vor und nach der Teilnahme an einzelnen Bausteinen ein Bogen mit Fragen zur Selbsteinschätzung der eigenen Kompetenzen zugeschickt. Der Vergleich der Vorher-Nachher-Ergebnisse beider (zum Zeitpunkt der Verschriftlichung dieses Artikels) vollständig umgesetzter Jahrgänge in den Schuljahren 2021/2022 sowie 2022/2023 von insgesamt 49 qualifizierten Demokratiescouts hat gezeigt, dass der Projektaufbau zu einer Steigerung insbesondere des Zutrauens in die eigene Handlungsfähigkeit der Demokratiescouts geführt hat.

So fühlten sich die Demokratiescouts beispielsweise nach Abschluss der Qualifizierung sicherer im Umgang mit menschenfeindlichen Aussagen der Jugendlichen sowie in der Kenntnis von relevanten Netzwerken, die sie in Fällen von Diskriminierung kontaktieren können. Sie haben insgesamt ein größeres Selbstvertrauen, selbst unmotivierte Jugendliche für politische Themen zu begeistern und diese in ihrer Persönlichkeit stärken zu können. Auch die Selbsteinschätzung im Bereich Methodenkompetenzen nahm durch die Teilnahme an der Qualifizierung zu. Zudem wurden in Feedbackgesprächen und in der Abschlussbefragung offene Rückmeldungen der Demokratiescouts zur Qualifizierung eingeholt.

Hervorzuheben sind hier zum einen die Rückmeldungen, in denen eine gewisse Haltungsänderung zum Ausdruck kommt. Beispielsweise so, dass die Fachkräfte durch die Qualifizierung im beruflichen Alltag nun mehr darauf achten, den Jugendlichen Partizipation zu ermöglichen, auf ihre Interessen einzugehen und ihre Stärken, statt ihrer Defizite zu sehen. Andere Demokratiescouts betonten, dass sie in der Gesamtbreite der Themen der Demokratiebildung eine stärkere inhaltliche Sicherheit erworben hätten; wieder andere beziehen sich auf den Aspekt, dass sie sich in einzelne spezifischere Themen der Demokratiebildung noch einmal stärker einarbeiten konnten.

5. Demokratiescouts begleiten und stärken

So vielfältig die bearbeiteten Themen und Fragestellungen der Qualifizierung waren, so unterschiedlich waren auch die Inhalte der Begleitung der Demokratiescouts in der praktischen Arbeit durch die Regionalkoordinator*innen des Projektteams. Die Themen reichten von der gemeinsamen Reflexion über Gelungenes und Gescheitertes in der Umsetzung mit den Jugendlichen, über die Unterstützung bei der Vorbereitung von Inhalten und Methoden, bis hin zum gemeinsamen Gespräch darüber, was für einzelne Jugendliche auf ihrem Weg in ein gesellschaftliches Engagement besonders hilfreich sein könnte. Bedeutsam war auch die Recherche und Vermittlung passender Kooperationspartner*innen, um Jugendliche gezielt in ein Engagement oder beispielsweise auch ein Praktikum zu vermitteln.

Die Begleitung erfolgte in Form von regelmäßigen 1:1-Check-Ins zwischen Demokratiescout und Regionalkoordination. Alternierend dazu wurden sogenannte Gruppen-Check-Ins angeboten, in denen die Fachkräfte im Sinne einer kollegialen Fallberatung digital über Erfolgserlebnisse und aktuelle Herausforderungen sprechen konnten. Zusätzlich zu den Check-Ins wurden seitens der Regionalkoordinator*innen Projektbesuche durchgeführt. Dies war ein wichtiger Bestandteil der Begleitung, da die Besuche es ermöglichten, mit dem Vier-Augen-Prinzip auf die Gruppen der Demokratiescouts zu schauen, sichtbare Entlastung bei der Begleitung von Ausflügen zu bieten oder den Demokratiescouts Feedback zu ihrer Arbeit zu geben. Im Laufe des Projektjahres lud das Projektteam außerdem zu (über-)regionalen Veranstaltungen ein, an denen die Demokratiescouts mit ihren Gruppen teilnehmen konnten. Diese führten zu wichtigen Impulsen für die Demokratiescouts. Auf „Demokratiekonferenzen“, die in Zusammenarbeit mit der Vodafone Stiftung Deutschland und dem CAP-Centrum für Angewandte Politikforschung der LMU München unter dem Titel „Do Democracy!“ umgesetzt wurden, konnten die Jugendlichen sich zu aktuellen politischen Themen austauschen und gemeinsam Handlungsansätze erarbeiten, die sie wiederum im Anschluss an die Kommunalpolitiker*innen ihrer Stadt oder an die Landtags-/Bundestagsabgeordneten ihres Wahlkreises übergeben konnten.

Im Rahmen von „Town Hall Meetings“, die von einem Teil der Jugendlichen selbst mitorganisiert wurden, konnten sie mit Vertreter*innen aus Politik und Zivilgesellschaft sowie staatlicher Institutionen ins direkte Gespräch kommen und ihre Perspektiven, Gedanken und Kritik in Bezug auf die je bedeutsamen Themen äußern. Und auf den Abschlussveranstaltungen, die nach erfolgter Teilnahme am Projekt stattfanden, hatten sie die Gelegenheit, auf einer Engagement- und Ehrenamtsbörse Einblicke in mögliche Tätigkeiten zu erhalten und mit Gleichaltrigen außerhalb ihrer jeweiligen Gruppen in Kontakt zu kommen, die sich für ein ähnliches Anliegen interessieren wie sie selbst.

Die Jugendlichen nahmen aus den Veranstaltungen neue Interessen oder Ideen dafür mit, was sie in ihrem direkten Umfeld verändern und bewirken möchten. Dies waren wertvolle Ansatzpunkte für die Demokratiescouts und ein wichtiger Impuls von außen, da der Radius vieler projektteilnehmender Jugendliche durch ihre soziale Lage häufig nur auf den eigenen Stadtteil und das direkte soziale Umfeld begrenzt blieb.

Zur Begleitung gehörte auch, dass den Demokratiescouts zu den Bausteinen aus der Qualifizierung Workshopvorlagen, eine Methodensammlung sowie eine Aktivitäten- und Partnerliste zur Verfügung gestellt wurden. In dieser pflegte das Projektteam bundeslandspezifisch Workshopangebote von Vereinen, Organisationen und Stiftungen sowie Menschen und Initiativen ein, die einen Bezug zu Demokratie bzw. sich vor Ort für unsere Demokratie stark machen. Außerdem diente sie als Inspirationsquelle für die Demokratiescouts untereinander, da in ihr auch Projekte, die Jugendliche des Projekts gemeinsam umgesetzt hatten, hinterlegt wurden. Dies erleichterte den Demokratiescouts den Einstieg in je einzelne Themen und gab ihnen Impulse, wie sie Demokratie erlebbar machen konnten.

6. Wirkungsmessung: Umsetzung mit Jugendlichen

Um die Wirkung des Projektes bei den Jugendlichen messbar zu machen, beantworteten die Teilnehmer*innen zu Ende des Projektes einen digitalen Fragebogen, in dem sie u.a. danach gefragt wurden, welche Veränderungen sie durch die Teilnahme bei sich selbst wahrgenommen haben. Eine wichtige Erkenntnis dieser Befragung ist: Von den ca. 500 Jugendlichen, die an Projektjahrgängen 2021/2022 und 2022/2023 teilgenommen haben, stimmten etwa 82% der Aussage zu, dass es sich bei der Demokratie um die beste Staatsform handelt.

Vergleichen wir diese Zahl mit der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, in der nur 62% der Schüler*innen allgemeinbildender Schulen dieser Aussage zustimmten, ist hier ein deutlich höherer Wert zu verzeichnen, der sich fast dem Wert der Gymnasialschüler*innen annähert (92%). Dies verweist auf einen Zusammenhang, den die Politikdidaktik immer wieder betont: Schüler*innen mit Zugang zu mehr politischer Bildung sind mit dem Funktionieren der Demokratie insgesamt zufriedener. Fehlendes Wissen und Verständnis für die Komplexität von Demokratie und Politik führt hingegen häufig zu Misstrauen und Ablehnung (Achour/Wagner 2019, 183 ).

Besonders hervorzuheben ist, dass die Mehrheit der Jugendlichen angibt, dass sich durch die Teilnahme am Projekt ihr Interesse an Politik und Demokratie und ihre Bereitschaft, sich zivilgesellschaftlich oder politisch zu engagieren, verändert haben. Das zeigt sich

  • in einem Anstieg im Interesse an Politik (68%), in der Bereitschaft, sich politisch zu informieren (58%), politische Themen zu diskutieren (62%) sowie im Verständnis für politische Zusammenhänge (61%),
  • in einem deutlichen Anstieg in der Bereitschaft politisch (53%) und sozial (62%) aktiv zu sein,
  • sowie in einem deutlichen Anstieg bei dem Eindruck, ein aktives Mitglied der Gesellschaft zu sein (58%) sowie selbst etwas bewirken zu können (57%),

Zudem haben die Jugendlichen zugestimmt, dass sie insgesamt einen Lernzuwachs in den Bereichen Problemlösung (73%), Umgang mit anderen Meinungen (73%), Kompromiss-Verständnis (68%), politische Beteiligungsmöglichkeiten (61%) sowie Relevanz des eigenen Umfelds (66%) verzeichnet haben und durch die Teilnahme am Projekt einen deutlichen Zugewinn im Selbstbewusstsein erlangt haben, für die eigene Meinung einzutreten (81%).

7. Persönliche Geschichten

Doch welche persönlichen Geschichten stecken hinter diesen Zahlen? Wie kann man sich die Entwicklung eines jungen Menschen vorstellen, der freiwillig eine Demokratie-AG in seiner Schule besucht oder zu einem Demokratie-Treffen an den Jugendclub kommt? Ein paar anschauliche Beispiele aus der Projektumsetzung sollen einen Einblick ermöglichen:[1]

Lucy (16) hat durch das Demokratie-Treffen in ihrem Jugendclub neue Interessen gewonnen und recherchiert seitdem eigenständig zu verschiedenen politisch-historischen Themen. Sie verfasst dazu Instagram-Posts oder positioniert sich unter anderen Beträgen, wenn sie diskriminierende Kommentare oder Hate Speech liest.

Anas (17) zeigte vor der Projektteilnahme kein politisches Bewusstsein oder Interesse und hat nur an der Demokratie-AG teilgenommen, um seinem Freund Sebastian einen Gefallen zu tun. Durch die Teilnahme hat er Interesse an für ihn neuen Themen entwickelt und für sich erkannt, dass sein eigenes Leben eine politische Dimension hat. Besonders ein Workshop seines Demokratiescouts, in dem es um Chancenungleichheit in der Gesellschaft ging (Methode: „Ein Schritt nach vorn“) war für ihn sehr prägend. Er sieht nun, dass er und viele andere in bestimmte Situationen hineingeboren werden, die ihr Leben und ihre Teilhabe- bzw. Bildungschancen maßgeblich beeinflussen. Diese Erkenntnis hat ihn auch mit Blick auf andere Themen politisiert.

Zeynep (15) berichtete nach einem Jahr Projektteilnahme davon, dass sie in der Vergangenheit gewaltsam und handgreiflich reagiert hat, wenn andere Jugendliche sich auf dem Schulhof oder im Klassenzimmer kritisch gegenüber ihren eigenen politischen Ansichten zum Herkunftsland ihrer Eltern geäußert haben. Sie berichtete, dass sie gelernt habe, dass es für beide Seiten ertragreicher ist, die Meinung anderer anzuhören und argumentativ darauf zu reagieren. Sie hat sich seitdem nicht mehr an körperlichen Auseinandersetzungen beteiligt.

 

[1] Die Namen der Personen wurden aus Gründen des Datenschutzes verändert.

8. Lessons Learned

Im Laufe der Projektzeit konnten 84 Demokratiescouts in drei Jahrgängen qualifiziert und zum Zeitpunkt der Verschriftlichung dieses Artikels über 1.000 Jugendliche erreicht werden. Die wichtigsten Erkenntnisse und „lessons learned“ aus dem Projekt sind im Folgenden zusammengestellt:

  • Es hat sich bewährt, die Methoden der Demokratiebildung auf den Qualifizierungsveranstaltungen von den Fachkräften ausprobieren und anwenden zu lassen. So konnten sie die Vor- und Nachteile einzelner Methoden diskutieren und gemeinsam reflektieren, worauf sie in der Durchführung mit Jugendlichen besonders achten wollen (Metaebene).
  • Die Workshopvorlagen waren für die Fachkräfte eine intensiv genutzte Möglichkeit, um Ideen dafür zu generieren, wie sie ein bestimmtes Thema angehen können. Das Projekt hat daher im Laufe der Zeit Workshopvorlagen zu verschiedensten Themen der Demokratiebildung, beispielsweise zu Werten, Grundrechten, Debatten und Diskussionen, Fake News, Vorurteilen, Diskriminierung, verfassungswidrigen Zeichen und Symbolen oder Kommunalpolitik, entwickelt. Auch die Aktivitäten- und Partnerliste waren für die Demokratiescouts eine gute Unterstützung, um sich Netzwerke zu erschließen.
  • Die Demokratiescouts wurden durch die Regionalkoordinator*innen bei der Organisation von Treffen (z.B. mit Bundestagsabgeordneten der entsprechenden Wahlkreise) oder Ausflügen (z.B. ins Gericht oder Jugendparlament) unterstützt. Die umfängliche Begleitung und die vielen Serviceangebote durch das Projekt erleichterten es den Demokratiescouts, einen (Neu-)Einstieg in die praktische Demokratiearbeit zu finden, am Ball zu bleiben, neue Kooperationsmöglichkeiten zu erschließen oder Themen anzugehen, die außerhalb ihrer Komfortzone lagen.
  • Nach Beendigung des erstens Projektjahres wurden die Inhalte der Qualifizierung der Demokratiescouts und damit verbunden die Lernziele für die projektteilnehmenden Jugendlichen in der praktischen Umsetzung überprüft, erweitert und ergänzt. Dies geschah einerseits auf Grundlage der erhobenen Evaluationsdaten und andererseits vor dem Hintergrund, dass das Projekt aufgrund eines auf Twitter veröffentlichten Fotos von einem medialen Shitstorm betroffen war: Bei der Abschlussveranstaltung im ersten Jahrgang 2021/2022 zeigten einige Schüler mehrdeutige Gesten, die sich auch extremistischen Bewegungen zuordnen ließen. Zu sehen war der Vorfall auf einem via Twitter verbreiteten Gruppenfoto mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Ein kurzer, aber heftiger (rechts-) konservativer Shitstorm ergoss sich auf Ministerin und Projekt, sowohl medial (vorwiegend Twitter) als auch in der Presse. Auch wenn den Jugendlichen die Mehrdeutigkeit ihrer Gesten nicht bewusst war, hat das Verhalten dem Projekt und den Teilnehmenden geschadet. Aus dem Vorfall haben die Projektverantwortlichen gelernt und die Inhalte der Qualifizierung (sowohl für die Demokratiescouts als auch die Jugendlichen selbst) erweitert und Verbesserungen vorgenommen. Bei einem menschenrechtsbasierten, vorurteilsbewussten und diskriminierungssensiblen Projektansatz müssen bestimmte Themen aktiv von den Fachkräften gesetzt sowie Inhalte regelmäßig überprüft und angepasst werden. So wurde beispielsweise ein zusätzlicher Workshop zum Thema „Zeichen und Symbole“ entwickelt und als Pflichtthema gekennzeichnet.
  • Die Möglichkeiten für die Demokratiescouts, sich auf den Präsenzqualifizierungen und Veranstaltungen sowie digital miteinander auszutauschen, wurde als sehr bestärkend empfunden. Dies spielte vor dem Hintergrund der großen Herausforderungen, mit denen sich die Fachkräfte in ihrer täglichen Arbeit konfrontiert sahen (diskriminierende Einstellungen, Diskriminierungserfahrungen, Populismus, Fake News usw.), eine zentrale Rolle. Sie erlebten sich als Teil eines wachsenden Netzwerkes von Demokratiescouts, welches sich diesen Herausforderungen stellt.
  • Das Angebot von mehreren (über-)regionalen Veranstaltungen mit bis zu 300 teilnehmenden Jugendlichen, bei denen die Jugendlichen die Möglichkeit hatten, andere engagierte junge Menschen ihren Alters kennenzulernen, haben einen wichtigen Faktor in der Motivation der Jugendlichen selbst, aber auch der Demokratiescouts gespielt. Die gemeinschaftsstiftenden und wertschätzenden Veranstaltungen haben dazu beigetragen, dass die Jugendlichen sich in ihrem Einsatz gestärkt fühlten und boten ihnen die Möglichkeit, sich über ihren eigenen Kontext hinweg mit anderen Jugendlichen zu vernetzen.

9. Fazit

Durch das Projekt konnten viele Jugendliche erstmals jenseits von schulischem Unterricht positive Bezüge zur Demokratie herstellen. Durch das freie Setting, in dem kein Leistungsdruck herrschte und Noten keine Rolle spielten, gab es für sie den Raum, politisch relevante und tagesaktuelle Dinge zu durchdringen, sie kritisch zu hinterfragen und einen eigenen Standpunkt dazu zu entwickeln. Dies trug zu einem differenzierten Blick auf Politik und Gesellschaft bei. Entscheidend war, dass viele Demokratiescouts sich die Zeit nahmen, mit den Jugendlichen nicht nur über Demokratie zu sprechen, sondern sie auch erleb- und erfahrbar zu machen: Sie nahmen mit ihren Gruppen an Demonstrationen teil, besuchten mit ihnen gemeinsam das städtische Jugendparlament, luden zivilgesellschaftliche Vertreter*innen an ihre Schule ein oder organisierten Gespräche mit den Abgeordneten ihres Wahlkreises. Sie schauten gemeinsam Dokumentationen über die Lage der Menschenrechte weltweit oder trafen junge Studierende, die sich für ein gemeinsames Europa engagieren. Sie inspizierten ihren Stadtteil und dokumentierten öffentliche Orte mit Verschönerungs- oder Veränderungsbedarf, oder trafen sich mit anderen Gruppen der Region, um Streitgespräche zu führen. All das ging weit über das Demokratieverständnis im Sinne von Demokratie als Herrschaftsform hinaus, denn es nahm vor allem Demokratie als Lebens- und Gesellschaftsform in den Blick.
Von zentraler Bedeutung war dabei auch die Haltung der Demokratiescouts. Sie begegneten den Jugendlichen mit einem gleichberechtigten und partizipativen Anspruch und sie nahmen die Jugendlichen in ihren Lebensrealitäten wahr. Sie arbeiteten stärkenorientiert und gaben ein anerkennendes Feedback. Sie unterstützten sie dabei, etwas zu finden, was ihnen am Herzen liegt. Dadurch entwickelten viele Jugendliche das Selbstbewusstsein, ihren Standpunkt zu vertreten oder ihre eigenen Ideen und Projekte zu verfolgen. Das zeigt einmal mehr, dass es vielen sozial benachteiligten Jugendlichen nicht an Motivation fehlt, sondern an Selbstvertrauen, an Netzwerken und an Zugängen zu Beteiligung.
Für viele Jugendliche waren die Demokratiescouts eine Art „role model“ und damit authentische Vorbilder, die demokratische Werte leben und mit ihrem Gestaltungswillen Dinge in Bewegung bringen wollen. Für die Jugendlichen, die ein solches „Demokratie-Vorbild“ nicht in ihrem näheren Umfeld hatten, mit sonst niemandem über politisch-gesellschaftliche Themen sprachen oder keinen Rückenwind bekamen, sich für ihre Anliegen stark zu machen, war dies eine sehr wertvolle Begegnung. Demokratie wird nicht vererbt, sie muss erlernt und eingeübt werden. Demokratiescouts, die eigens qualifiziert und begleitet werden, aufsuchende Demokratiearbeit umzusetzen, sind dafür bedeutsame Akteure und wirken so als Multiplikator*innen des hier skizzierten Ansatzes.

Literatur:
Achour, Sabine/ Wagner, Susanne (2019): Wer hat, dem wird gegeben. Politische Bildung an Schulen, hrsg. von Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin.
Europarat (2016): Kompetenzen für eine demokratische Kultur. Gleichberechtigtes Zusammenleben in kulturell unterschiedlichen demokratischen Gesellschaften. Online: 16806ccc0b (coe.int) (Zugriff: 26.10.2023)
Himmelmann, Gerhard (2004): Demokratie-Lernen: Was? Warum? Wozu? In: BLK (Beiträge zur Demokratiepädagogik). Berlin.
Hübner, Christine/ Eichhorn, Jan (2018): Wie haben junge Deutsche 2017 gewählt? Wahlverhalten junger Wähler_innen zur Bundestagswahl 2017. hrsg. von Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin.
Shell Deutschland Holding (Hg.) (2019): Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort. 18. Shell Jugendstudie. Weinheim.
Strauch, Magdalena (2020): „Interessiert, aber (noch) nicht engagiert…“ – Jugendliche in Berlin Spandau begeistern sich für Demokratie und Beteiligung. In: Berkessel, Hans/ Beutel, Wolfgang/ Frank, Susanne/ Gloe, Markus/ Grammes, Tilmann/ Welniak, Christian (Hg.): Demokratie als Gesellschaftsform. 7. Jahrbuch Demokratiepädagogik. Frankfurt/M., S.

Autorin

Kristin Pröger
Regionalkoordinatorin Sachsen E-Mail
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